Genozid von Srebrenica: Inbegriff für kollektives Versagen

25 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica gilt auch im deutschen Interesse mehr denn je: Die Zukunft des Westbalkans liegt in der EU. Insbesondere die junge Zivilgesellschaft muss gestärkt werden, schreibt der Staatsminister im Auswärtigen Amt in einem Gastbeitrag.

Juli 1995: Millionen von Menschen bestaunen in Berlin den durch Aktionskünstler Christo verhüllten Reichstag. Das belgische Königspaar besucht Bonn. Derweil nimmt im äußersten Osten von Bosnien und Herzegowina das schlimmste Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg seinen Lauf: der Völkermord von Srebrenica. In den Tagen ab dem 11. Juli ermordeten dort bosnisch-serbische Streitkräfte Tausende unbewaffnete muslimische Jungen und Männer auf grausamste Weise. Nun jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 25. Mal.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wähnten viele die liberale Demokratie weltweit auf einem unaufhaltsamen Siegeszug. Im Schatten dieser Aufbruchstimmung brach sich auf dem Balkan längst überholt geglaubter Nationalismus blutig abermals seine Bahn. Srebrenica bildet ein besonders düsteres Kapitel jener Kriege und Konflikte, die das ehemalige Jugoslawien in ein riesiges Schlachtfeld verwandelten. Der so idyllisch gelegene Ort steht sinnbildlich für einen nicht mehr für möglich gehaltenen Rückfall in die Barbarei, für menschliche Abgründe und unermessliches Leid. Frauen und Kinder wurden verfolgt, vergewaltigt und vertrieben, wehrlose Jungen und Männer systematisch aussortiert, ermordet und verscharrt – nur weil sie bosnische Muslime waren.

Srebrenica ist aber auch zum Inbegriff für das kollektive Versagen der internationalen Gemeinschaft geworden. Denn das Morden vollzog sich vor den Augen der Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit. Die internationale Gemeinschaft hat es mit ihren in der Region stationierten Blauhelmsoldaten nicht vermocht, die Zivilisten zu schützen und den mordenden Truppen von General Ratko Mladic Einhalt zu gebieten.

Srebrenica markiert nicht nur einen Tief-, sondern auch einen Wendepunkt der jüngeren europäischen Geschichte. Das grausame Massaker hat unser Selbstbild und Selbstverständnis bis ins Mark erschüttert und nicht nur in Deutschland ein Umdenken in Gang gesetzt. Es hat unseren Blick darauf verändert, was unsere Verantwortung in der Region, in internationalen Konflikten und den Einsatz auch militärischer Mittel für die Friedenswahrung und den Schutz von Zivilisten anbelangt. Die Hoffnung, „nie wieder Krieg“ führen zu müssen, erwies sich angesichts der Gräuel in Europas Innenhof als hehre Illusion. Frieden und Versöhnung auf dem Westbalkan sind schließlich auch zu einer Nagelprobe für den dauerhaften Erfolg des europäischen Modells geworden.

Bis zum heutigen Tag hat der Genozid von Srebrenica tiefe Wunden hinterlassen. Noch immer werden neue Gräber mit sterblichen Überresten von Ermordeten entdeckt. Auch in diesem Jahr werden wieder Opfer in der 2003 eingeweihten Gedenkstätte von ihren Familien beigesetzt. Längst nicht abgeschlossen ist auch die rechtliche Aufarbeitung der Gräueltaten – nicht in Den Haag, wo das Urteil im Revisionsprozess gegen Mladic weiter auf sich warten lässt; nicht in den Ländern der Region, wo die Verfahren gegen Kriegsverbrecher zum Teil nur schleppend vorankommen und sich bei Weitem noch nicht alle Täter vor Gericht verantworten mussten.

Während die internationale Gerichtsbarkeit das Verbrechen als Völkermord bezeichnet, weigern sich Serbien und bosnische Serben beharrlich, den Genozid als solchen anzuerkennen. Und in Bosnien und Herzegowina gibt es bis heute kein nationales Gesetz, das die Leugnung von Kriegsverbrechen unter Strafe stellt. Weiterer Anstrengungen bedarf es auch, um das Schicksal von Vermissten aufzuklären. Dabei müssen endlich alle Staaten der Region ihre Archive öffnen und aktiv zusammenarbeiten. Dazu haben sich die Regierungschefs des Westbalkans mit der „Londoner Erklärung“ des Berlin-Prozesses im Jahr 2018 verpflichtet.

Die Lage auf dem westlichen Balkan bleibt fragil. Politiker säen gezielt Zwietracht zwischen ethnischen und religiösen Gruppen, gießen neues Öl ins nationalistische Feuer und schüren rassistische Vorurteile und Hass. Ihre hetzerische Rhetorik macht auch vor der Verehrung verurteilter Kriegsverbrecher nicht halt. Sie spalten, statt zu versöhnen. Noch immer lauert die Gefahr, dass alte Wunden und ethnische Konflikte wieder aufbrechen. Viele junge Menschen sehen daher keine Perspektive in der Heimat und machen sich im Ausland auf die Suche nach einer besseren Zukunft – weil es ihnen daheim zu langsam vorangeht mit Versöhnung und Wandel.

Regionale Versöhnung ist der Schlüssel für Frieden und Wandel, für eine gute Zukunftsperspektive auf dem Westbalkan. Doch Versöhnung ist ein steiniger Weg, der allen Seiten viel Kraft und Mut abverlangt. Die gute Nachricht ist: Überall in der Region gibt es engagierte Persönlichkeiten, die sich mit Herz und Verstand dafür einsetzen.

Etwa der Kopf der muslimischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, Großmufti Husein Kavazovic, der sich für die Anerkennung der begangenen Taten engagiert, um den Boden für Versöhnung zu bereiten; die Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums in der bosnischen Stadt Jajce, die sich seit Jahren der von den Behörden gewünschten ethnischen Trennung widersetzen; die vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich in der Versöhnungsinitiative Recom zusammengefunden haben und durch das Wachhalten der Erinnerung an die Opfer der Balkankriege zu einer gemeinsamen Zukunft finden wollen; das regionale Jugendwerk Ryco, in dem junge Mutmacherinnen und Mutmacher gemeinsam Austausch und Zusammenarbeit vorantreiben.

Und wer hätte bis vor Kurzem eine Einigung im 27 Jahre währenden Namensstreit zwischen der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien – heute: Republik Nordmazedonien – und Griechenland für möglich gehalten? Mutige Politikerinnen und Politiker haben unter hohem persönlichen Einsatz etwas Historisches geleistet. Mit diesem Versöhnungswerk haben sie auch eine glasklare Botschaft in die ganze Region gesendet: Nationalismus und Populismus führen in eine Sackgasse, in Zusammenarbeit und Kompromiss liegt die gemeinsame Zukunft!

Was die Rolle der EU anbelangt, ist klar: Wir haben eine besondere Verantwortung im Innenhof des europäischen Hauses. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun für Frieden, Versöhnung und Demokratie auf dem Westbalkan. Gerade bei vielen jungen Menschen hat das vereinte Europa gemeinsamer Werte nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt. Daher müssen wir unsere Transformationskraft klug einsetzen und den Menschen in der Region zeigen, dass sie auf uns zählen können.

Umso wichtiger war es, dass wir auf dem EU-Gipfel im Mai – auch inmitten des Corona-Krisen-Stresstests – noch einmal unmissverständlich klargemacht haben: Die Zukunft des westlichen Balkans liegt in der EU! Und das zuvor erteilte grüne Licht für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien war der richtige, längst überfällige Schritt. Jetzt müssen möglichst bald die ersten Beitrittskonferenzen mit beiden Staaten folgen, sofern die Voraussetzungen dafür erfüllt werden. Und auch mit Blick auf das Kosovo müssen wir als EU das liefern, was wir zugesagt haben, und auf dem Weg zur Visaliberalisierung endlich vorangehen.

Auf ihrem Weg in die EU werden wir die Länder des westlichen Balkans eng begleiten. Das ist auch eine Priorität unserer EU-Ratspräsidentschaft, während derer Deutschland ganz besonders in der Verantwortung steht! Bei den Kraftanstrengungen zu regionaler Versöhnung ebenso wie bei der Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Corona-Krise stehen wir der Region zur Seite. Die Menschen sollen spüren, was europäische Solidarität ausmacht und was unser vereintes Europa so einzigartig und kostbar macht.

Vor allem wollen wir den Aufbau einer starken und vielfältigen Zivilgesellschaft nach Kräften unterstützen und gezielt die Perspektiven junger Menschen in den Blick nehmen. Wir müssen zum Beispiel das Jugendwerk Ryco weiter stärken, damit wir die junge Generation als Botschafterinnen und Botschafter von Frieden und Versöhnung gewinnen. Und mit Blick auf regionale Spannungen müssen wir dem Normalisierungsdialog zwischen Serbien und dem Kosovo neuen Atem einhauchen. Denn wir brauchen nachhaltige Konfliktlösungen – nicht gefährliche „Deals“, die mit Gebietstauschfantasien wieder eine besonders konfliktträchtige Büchse der Pandora zu öffnen drohen.

Der Genozid von Srebrenica war eine schreckliche Zäsur. Die tiefen Wunden sind längst nicht verheilt, die Narben schmerzen immer noch. Am 11. Juli halten wir inne und gedenken der Opfer dieser Barbarei und der vielen anderen unschuldigen Opfer der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Gedenken gibt den Opfern ein Gesicht und eine Stimme. Dass die Leidensgeschichten der Opfer und Angehörigen auch künftigen Generationen zugänglich gemacht werden, ist unendlich wichtig. Denn es ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht. Aber eine Garantie ist es längst nicht.

Was „Völkermord“ und „Genozid“ genau bedeuten
Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat recht, wenn er sagt, dass Erinnerung uns gegen das Böse nicht immun macht und sich die bösen Geister heute in neuem Gewand zeigen. Auch in Deutschland und vielerorts in der EU. Diese Geister verachten die Demokratie und fürchten die Vielfalt. Sie setzen auf Spaltung, Abschottung und Hetze als Antworten auf die dringlichen Fragen unserer Zeit, nicht auf Zusammenführen und Dialog. Wir müssen daher den 11. Juli auch als Aufforderung und Weckruf begreifen, noch viel mehr zu tun. Der Völkermord von Srebrenica ermahnt uns, im Alltag wachsamer zu sein und entschiedener gegen Revisionismus, Nationalismus und jede Form von Rassismus vorzugehen. Und er nimmt uns die Verantwortung, dem Virus der Demokratieverachtung und Fremdenhass entschlossen die Stirn zu bieten – in Srebrenica und auf dem gesamten Balkan, in Deutschland und ganz Europa, in den USA und andernorts. Immer und überall!

WELT, Von Michael Roth

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